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„Die Individualität des Menschen wurde völlig missachtet“

Mit einem beeindruckenden und zugleich lehrreichen Vortrag begeisterten dieser Tage die beiden Zeitzeuginnen der DDR – Diktatur Jutta Fleck und Beate Gallus die Schülerinnen und Schüler der Qualifikationsphase am Laubach – Kolleg. Im vollbesetzten Atrium berichteten die beiden Frauen, Mutter und Tochter, von ihrem missglückten Fluchtversuch aus dem „Arbeiter – und Bauernstaat“ und der anschließenden Inhaftierung. Flecks Fazit nach 180 berührenden Minuten, in denen die Schülerinnen und Schüler viele Nachfragen stellen konnten: „Dieser Sozialismus hatte keine Humanität“.

Schulleiterin Ellen Reuther dankte in ihrer Begrüßung Leiter des Aufgabenfeldes II Olaf Kühnapfel für die Organisation des Zeitzeugengesprächs und den beiden Gästen für die Möglichkeit, authentisch den Umgang mit politischen Hemmnissen auf dem Weg zu einem friedlichen und freiheitlichen Miteinander erlebbar werden zu lassen. „Lassen wir uns zu einem bewussteren Umgang mit unserem demokratischen Mitbestimmungsrecht anstiften.“ 
In einem kurzen Video stellten Jutta Fleck, Leiterin des Schwerpunktprojekts „Politisch-Historische Aufarbeitung der SED-Diktatur" der Landeszentrale Politische Bildung Hessen, und Tochter Beate Gallus zunächst anhand beeindruckender Zeitzeugenaussagen von Tätern und Opfern die Thematik des Vortrags vor, bevor sie auf ihre ganz persönliche Geschichte zu sprechen kamen.  

Jutta Fleck, damals Jutta Gallus, arrangiert sich zunächst mit dem undemokratischen Staat, in dem sie lebt. Natürlich habe sie sich gerade als Jugendliche mehr Freiheit gewünscht, aber der Wunsch zur Flucht entsteht erst im Sommer 1982. Die Mutter war gerade verstorben, ihr Vater lebte schon lange in der Bundesrepublik und der zwölfte Ausreiseantrag war abgelehnt worden. Die Mutter zweier Töchter, Claudia (11) und Beate (9), geschieden von ihrem Ehepartner, will endlich in den Westen, weg aus Dresden. Sie will Freiheit, Demokratie und, dass ihre Töchter nicht in einer Diktatur aufwachsen müssen. „In meiner Verzweiflung riskierte ich die Flucht mit einer Schlepperorganisation“, erzählt Fleck. Diese soll sie und ihre Töchter im August 1982 über Rumänien und Jugoslawien in die Bundesrepublik bringen. Nach dem Verlust der Papiere durch angeblichen Diebstahl– erst später stellt sich heraus, dass es sich um eine bewusste Falle der Staatssicherheit gehandelt hatte - erhalten sie in der bundesdeutschen Botschaft in Bukarest Ersatzpapiere, in denen sie sich als Familie Lindner aus Bad Oeynhausen ausgeben. Nach Prüfung durch den rumänischen Geheimdienst Securitate erfolgt jedoch die Festnahme. „Die machten klar, dass sie schon seit Jahren Informationen über mich gesammelt hatten, weil ich Ausreiseanträge gestellt hatte.“ Ein wütender Beamte „ohne Seele“ habe sie angebrüllt: „Jetzt haben wir dich!“ „Wenn man am Flughafen vor allen Leuten mit der Kalaschnikow im Rücken abgeführt wird, möchte man am liebsten tot sein,“ schildert Tochter Beate Gallus Minuten nach der Verhaftung. „Die Menschen vorverurteilen ja sehr schnell.“ Anfang September 1982 werden die drei mit einem Interflug-Sonderflug in die DDR überstellt und sofort getrennt. Trotzdem rufen Beate und Claudia ihrer Mutter noch aufmunternde Worte zu „Wir halten zu dir!“ Da haben sie schon erfahren, dass ihre Mutter eine „Verräterin des Staates“ sei.

Jutta Fleck landet nach ihrem Fluchtversuch im berüchtigten Frauengefängnis Burg Hoheneck. Beate und Claudia werden, ohne sich von der Mutter verabschieden zu dürfen, in ein Kinderheim gebracht. Mit emotionalen Worten schildert Tochter Beate die Ankunft in einem Kinderheim für „schwer erziehbare Kinder“ in Munzig bei Meißen. „Wir wurden dort noch nicht einmal mehr mit den Namen angesprochen. Wir waren nur noch Nummern, als Individuen ausgeblendet, nichts wert." Nur ein Ziel habe der Staat verfolgt: „Die Umerziehung zu guten sozialistischen Persönlichkeiten.“ Das bedeutete erzwungenes kollektives Handeln in allen Situationen - selbst beim Toilettengang: „Wenn einer gehen wollte, mussten die anderen mitkommen. Die Individualität im Menschen wurde völlig missachtet.“ Die Kinder versuchen zu fliehen, werden aber in letzter Minute vom Heimleiter geschnappt und persönlich wieder zurück ins Heim begleitet.
Auch für die Mutter ist der Gefängnisalltag auf Burg Hoheneck die Hölle. „Privatsphäre gab es in den mit bis zu 30 Frauen überfüllten, unmenschlichen Zuständen und dauernd überwachten Zellen nicht“, sagt sie. Der einzige Trost: Briefe und Zeichnungen von den Kindern. Trotz gelegentlicher Aufenthalte in der „Absonderung“ genannten Isolationshaft übersteht Gallus die 22 Monate ohne Langzeitschäden: „Ich wollte nicht auf meine Kinder verzichten und um sie kämpfen. Das hat mir immer Kraft gegeben“, sagt sie.
Nach 26 Monaten wird Jutta Gallus vom Westen freigekauft. Doch ihre Kinder müssen im Osten bleiben. Die verzweifelte Mutter will unbedingt Claudia und Beate „rüberholen“, ihr Leben hat ohne die Kinder keinen Sinn. Bei Wind und Wetter steht sie mit einem Plakat am Berliner Grenzübergang Checkpoint Charlie. Auge in Auge mit den Grenzsoldaten der DDR. "Gebt mir meine Kinder zurück!" lautet ihr öffentlicher Protest. Doch nichts geschieht. Im Gegenteil: Sie wird bedroht, muss um ihr Leben fürchten. Es folgen vier lange Jahre zwischen Hoffen und Bangen. 1986 fordert sie in einem verzweifelten Appell im Berliner Reichstag anlässlich der Gedenkfeier zum 25. Jahrestag der Berliner Mauer vor der gesamten Weltpresse von den Politikern die Freilassung ihrer Töchter: Keine großen Sprüche! Vier Jahre Trennung sind genug! Endlich setzt man sich auf höchster politischer Ebene für ihr Schicksal ein. Doch erst am 25.8.1988 erhält Jutta Fleck das erlösende Signal aus Berlin, dass ihre Kinder zu ihr kommen dürfen.
Immer wieder unterbrachen Jutta Fleck und Beate Gallus im Atrium ihre Erzählungen, um mit den aufmerksamen und interessierten Schülern zu diskutieren, dabei weisen sie auf die vielfachen Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie hin. Am Ende der Veranstaltung erhielten die Schülerinnen und Schüler ein Exemplar des Buches „Die Frau vom Checkpoint Charlie“, welches von Ines Veith geschrieben wurde und die bewegende Geschichte von Jutta Fleck erzählt.

     

 

 

 

 


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